Ich höre oft von Frauen, von Paaren, dass sie zwar gerne Sex hätten, aber sie keine Lust spüren, um überhaupt damit zu beginnen. Die verlorene gegangene, intensive Lust, das verloren gegangene Begehren – so wie es am Beginn der Beziehung war – ist ein großes Thema. Darin spüren viele einen immensen Mangel. Die Sexualität fehlt zwar. Aber was sollen wir denn machen, wenn keine Lust auf Sex vorhanden ist?!
Keine Lust auf Sex – und die Erwartungshaltung in unserem Kopf
In vielen von uns lebt eine Erwartungshaltung. Nämlich die, dass Lust automatisch da sein MUSS, sich einfach in den Weg stellen MUSS, uns die Begierde aufeinander überkommen MUSS. Wir uns ihr gar nicht mehr entziehen können und über Jahre lustvoll übereinander herfallen MÜSSEN. Ebenso, wie es am Anfang unserer Beziehung war.
Wenn sich diese automatische, überbordende Lust nicht mehr einstellt, wir keine Lust auf Sex haben, dann…
- … ja dann ist es nicht richtig…
- … dann fehlt etwas…
- … dann ist uns etwas verloren gegangen.
Wir spüren den Mangel und ein gewisses Ohnmachts-Gefühl. Denn: Wir vermissen es zwar, aber wir können nichts dagegen tun. Verloren ist eben verloren. Und diese „Macht-Losigkeit“, selbst nichts dagegen tun zu können, kann soweit führen, dass wir an unserer Beziehung, an unserer Liebe zum Partner/zur Partnerin, an uns selbst, zu zweifeln beginnen.
Sind wir „Opfer“ unserer fehlenden Lust?
Ganz spitz formuliert, könnte ich behaupten: Wir lassen uns dazu verleiten (unbewusst, aber doch), uns in einer gewissen „Opfer-Rolle“ zu sehen.
- Wir geben die „Verantwortung“ für gelebte, gelungene Sexualität ab, in dem wir sagen: „Wir können nichts dafür, dass wir keine Lust auf Sex haben“.
- Damit machen wir uns von einem „Außen-Einfluss“ abhängig, der sich so evtl. nie wieder einstellen wird, in dem wir erwarten: „Ohne spontane, überbordende Lust, kein Sex.“.
- Wir gehen in eine „Fremdbestimmung“, wenn wir die Regel aufstellen: „Nur wenn Lust und Verlangen automatisch da sind, kann Sex geschehen.“.
Nur: Muss das so sein? Geben wir die Verantwortung für unsere Erfüllung auch in anderen Lebensbereichen so leicht ab? Oder kann es sein, dass unsere Erwartungshaltung uns hier einen gewaltigen Strich durch die Rechnung macht?
Unromantisch, aber eine Antwort auf verlorene Lust
Es ist erwiesen: Sexuelle Leidenschaft nimmt mit der Dauer der Beziehung ab. Und das völlig natürlich, von alleine und ohne Bezug auf den Partner/die Partnerin/die Partnerschaft/das Umfeld.
Ein paar Auszüge aus Ulrich Clements Buch, „Guter Sex trotz Liebe“, lassen tiefer blicken (einer der führenden, deutschen Psychologe, Psychotherapeut und Sexualwissenschaftler):
…Die meisten Paare kennen eine sexuelle Verlaufskurve, die sich von einem Höchststand zu Beginn der Beziehung stetig bergab entwickelt. In dem Maß, wie die Liebe zwischen ihnen wächst, lässt das sexuelle Beehren nach…
…Auf der einen Seite wächst die Bindung des Paares aneinander. Die Liebe wird reicher. Auf der anderen Seite lässt das körperliche Begehren nach. Das Paar hat weniger Sex miteinander…
…Erotik wird von selbst schlechter. Man braucht nichts dafür zu tun. Nur warten. Niemand hat etwas falsch gemacht. „Gravity wins“ sagen die Engländer. Schwerkraft gewinnt immer. Die Dinge gehen nach unten. Und so ähnlich senkt sich der hoch fliegende erotische Wahnsinn der ersten Wochen und Monate langsam zu Boden, wo er in den langsamen berechenbaren Schritten als Alltagssexualität seinen Schwung verliert…
Sex ist eine Entscheidung
Wenn ich diese – ja, unromantische Tatsache – mit Klient/Innen bespreche, dann kommt hier oft Enttäuschung hoch. Frau wie Mann hätte es gerne anders. Sie hätten gerne das automatische „von der Lust überwältigt werden“. Das „gar nicht anders können“. Das „sich vor Lust kaum noch halten können.“. Absolut nachvollziehbar und nachempfindbar.
Nur, was machen wir nun mit der Gewissheit, dass ich „etwas festhalten muss“ – in unserem Fall die Lust – da es ansonsten am Boden landet (Gravity wins!)?
Ich frage ganz direkt: Wo soll die Reise hingehen?
- Auf Dauer auf Sexualität verzichten? Geht.
- Ein Leben lang mit Selbstbefriedigung auskommen? Geht.
- Die Sexualität auslagern? Frei nach dem Motto: Was der andere nicht weiß, macht den anderen nicht heiß. Geht.
- In einer offenen Beziehung leben. Geht auch.
- Trennung weil der Sex nicht passt, obwohl die Partnerschaft prinzipiell gut funktioniert, um die nächste Beziehung einzugehen, bei der man nach einiger Zeit – mit größter Wahrscheinlichkeit – am gleichen Punkt landet? Geht ebenfalls.
- ODER: Sex haben!? Sex miteinander!? Sex in der Partnerschaft!? Und das geht ebenfalls! Es braucht nur ein wollen!
All jene, die schon länger mitlesen, wissen, dass ich immer wieder auf diesem Aspekt „herumreite“. Und ich werde es auch weiterhin tun, er ist nämlich unglaublich wichtig! Denn: Genau hier liegt ein Knackpunkt!
Um bei den klaren Worten von Ulrich Clement zu bleiben:
Erotik braucht Entscheidung. Gerade in längeren Beziehungen ergeben sich erotische Momente kaum spontan. Vielmehr entscheiden sich die Partner, wie aktiv sie ihre Erotik gestalten wollen.
Der Knackpunkt: Keine Lust auf Sex ODER die bewusste Entscheidung für gelebte Sexualität
In frischen Beziehung war also zuerst die Lust da und damit sind wir ins Tun gekommen. In beständigen Beziehung dreht sich das System um: Wir beginnen zu tun und damit flackert die Lust wieder auf.
Wer für sich die klare Entscheidung trifft: „Schluss! Mit der momentanen Situation gebe ich mich nicht zufrieden! Ich bin glücklich in meiner Partnerschaft, aber ich möchte auch Sexualität erleben!“. Wer die Initiative ergreift und beschließt: „Ich gestalte hier und jetzt meine Sexualität neu!“.
Genau der lässt die ausbremsende Erwartungshaltung hinter sich! Geht in die Selbstbestimmung! Und schafft Raum für Neues! Die Belohnung kann ganz großartig sein… denn:
- Selbst gestaltete Lust und Sexualität, kann eine völlig neue Qualität hervor bringen.
- Neu gelebte Erotik und Sinnlichkeit kann Nähe, Tiefe und Innigkeit bieten, die man bisher noch gar nicht kannte und zu einem viel breiteren Spektrum an gelebter Sexualität führen.
- Und die Lust kann wieder größer und größer werden! Denn nun hält man sie aktiv und fest in den eigenen Händen!
Das schönste Geschenk, dass ihr euch selbst und eurem Partner/eurer Partnerin machen könnt:
Steigt aus der „vermeintlichen Opfer-Rolle“ aus. Nehmt eure Lust in die eigenen Hände! Beginnt, eure Sexualität selbst zu gestaltet! Und begebt euch damit auf eine Reise, die eure Sexualität zu ganz neuen Berg-Spitzen führt! ♥
Viele beflügelte Grüße
Petra